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Friedrich Dürrenmatt zum 100.: Er verkauft pro Halbjahr immer noch 50.000 Bücher - WELT

Wer in den späten 1980er Jahren auf ein westdeutsches Gymnasium ging, sah seinen Physiklehrer im weißen Kittel in der Regel zweimal: Einmal im Laborsaal, und einmal auf der Bühne in der Aula. „Die Physiker“ beherrschten damals die Spielpläne nicht nur der Schauspielhäuser, sondern auch der Schultheater. Friedrich Dürrenmatts Tragikomödie über die Risiken der Atomtechnik war zwar schon von 1962, aber es passte nach dem Nato-Doppelbeschluss so gut in den kalten Krieg der 1980er Jahre wie Nena mit ihren „99 Luftballons“.

Überhaupt ist Dürrenmatt, einer der international erfolgreichsten und bekanntesten Dramatiker in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, stark mit Schullektüren verknüpft. Wer nicht mit den „Physikern“ oder dem „Besuch der alten Dame“ groß wurde, erinnert sich vielleicht noch an Tschanz aus dem Kriminalroman „Der Richter und sein Henker“.

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Dass der eigene Henker lebenslang mit am Tisch saß, hat der am 5. Januar 1921 geborene Dürrenmatt eher in späten Interviews als in seinen Werken thematisiert: „Wenn Sie mit 25 zuckerkrank werden, kaufen Sie sich erst mal ein medizinisches Buch. Dann wissen Sie, das ist unheilbar. Das hat man ein Leben lang. Und dann kommen alle diese Dinge, von denen Sie gelesen haben. Wenn Sie pinkeln, wird der Teststreifen grün. Das ist der grüne Tod. Sie werden immer wieder daran erinnert, dass Sie etwas haben, mit dem Sie leben müssen und das zum Tod führt.“

Dürrenmatt war schwerer Diabetiker UND leidenschaftlicher Esser und Trinker, was einige Komplikationen in sein Leben brachte – und ihm einen frühen Tod mit nur 69 Jahren bescherte. Herzinfarkte, aber immer wieder auch Schocks durch Unterzuckerung suchten Dürrenmatt so verlässlich heim wie der Zufall seine Plots und Figuren.

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Welche Rolle der Blutzuckerspiegel in seinem Leben spielte, merkt man seinem Werk nur wenig an, dahingehend hätte er sich selbst durchaus knausgardesker protokollieren und literarisieren können. Aber, und das ist ja die Schattenseite jeder Knausgard-Poetik, wenn jeder Stuhlgang schon Thema war, lässt ein Schriftstellerleben eher wenig Anekdoten für Biografen übrig. Anders bei Dürrenmatt. Angeblich trank er Bordeaux, weil das die Sorte Rotwein mit dem geringsten Zuckergehalt war.

Für 40.000 Schweizer Franken hatte er, dank der Theatertantiemen schon Ende der 1950er Jahre Gutverdiener, den Weinschatz eines ganzen Bordeaux-Schlosses gekauft. Das Chateau Villemaurine hatte Dürrenmatt zu Lebzeiten fast „ausgetrunken“, aber einzelne Magnum-Flaschen besonderer Jahrgänge sind posthum im Schweizerischen Literaturarchiv (SLA) in Bern gelandet, schreibt Ulrich Weber, Autor der jüngst erschienenen Dürrenmatt-Biografie und langjähriger Kurator des Dürrenmatt-Nachlasses im SLA. Wein im Nachlass, welches Schicksal ist solchen Archivalien eigentlich beschert?

+++ Einmalige Nutzung für WELT alle incl. online/hd edition (KEIN TV) - im Zusammenhang zum 100. Geburtstag Dürrenmatt und Buchbesprechung Biografie (Diogenes Verlag) +++ Dürrenmatts Schrift Manuskript Bildnachweis: Schweizerisches Literaturarchiv, Bern/Nachlass Friedrich Dürrenmatt ''Für die Manuskriptseite von Friedrich Dürrenmatt kann ich Ihnen hiermit das Nutzungsrecht erteilen.'' - ulrich Weber Kontakt: Ulrich Weber, Dr. phil. Schweizerisches Literaturarchiv SLA Schweizerische Nationalbibliothek NB Hallwylstrasse 15, CH-3003 Bern Tel. + 41 (0)58 462 89 69 (oder +41 (0)79 877 74 33) Ulrich.Weber@nb.admin.ch
Faksimile des autobiografischen Textes „Vom Anfang her“, 1957 entstanden
Quelle: Schweizerisches Literaturarchiv, Bern/Nachlass Friedrich Dürrenmatt

Anders als der Biograf Peter Rüedi, der Dürrenmatt für seine 2011 erschienene Lebensbeschreibung „Ahnung vom Ganzen“ noch persönlich interviewt hatte, schließt Weber, Jahrgang 1961, den Schweizer Großschriftsteller über seine Werke und Wirkung auf. Er tut das betont ausgewogen, stellt keine steilen Thesen oder besonderen Narrative auf, sondern möchte „ein möglichst adäquates Bild von Dürrenmatts Leben und den verschiedenen Erscheinungsformen seiner Autorschaft vermitteln“. Durchweg solide und für einen Biografen fast zu wohltemperiert führt Weber durch dieses Künstler- und Denkerleben.

Dürrenmatt, das zeichnet Weber präzise nach, gehörte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum leibhaftigen Kanon, er war ein lebender Klassiker, bei dem die Medienvertreter und Künstlerfreunde von Paul Nizon bis Maximilian Schell ein- und ausgingen. Dass seine Stücke und Texte diese internationale, populäre Wirkung entfalten konnten – im Ostblock und in autoritären Regimen genauso wie im freien Westen, demonstriert, wie sehr dem Werk ein befreiendes Anti-Pathos zugrunde liegt.

Ein Pfarrerssohn sucht die Weltformel

Auch weil Weber Literaturwissenschaftler ist, der sich für Erzählmuster, Formen und Motive interessiert, macht diese Biografie viel Lust, neu ins Oeuvre einzusteigen. Die richtig dunklen und grotesken Dürrenmatt-Erzählungen bekommt man bis heute eher nach als während der Schulzeit zu lesen („Der Auftrag“, „Durcheinandertal“), vor allem die hervorragenden „Stoffe“, die in der Werkausgabe zwei dicke Bände füllen und Autobiografie und Mythologie auf eine angenehm diskrete, nicht-exhibitionistische Weise mischen.

Anders als bei seinem Landsmann Frisch, der sehr plastisch über Liebesnöte und Beziehungskrisen schreiben konnte, findet im Werk Dürrenmatts Privates kaum statt. Vielmehr zielen seine Interessen und Obsessionen oft auf antike Mythen und aufs Grundsätzliche: Kernphysik, Hirnforschung, Öko-Katastrophen. Begreifen wollen, was die Welt im Innersten zusammenhält – vieles, was Dürrenmatt als Denker, Autor und Maler umtreibt, geht auch auf den Pfarrerssohn zurück, der den Künstler in sich immer als Alter Deus begriff, als jemanden, der seinen Abfall vom Glauben faustisch mit möglichst viel Wissen kompensieren will.

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Während Weber den Dramatiker Dürrenmatt ein wenig zu nachsichtig behandelt – vieles wirkt aus heutiger Sicht doch wie Thesen-Theater für die Mittelstufe – geben sich die Kapitel über den Denker ehrlicher. Dürrenmatt sei, was Wissensfelder angeht, nicht unbedingt Chefauskenner, aber ein „gargantuesker Nimmersatt“ gewesen, schreibt Weber. Ob Theologie, Teilchenphysik, Kosmologie, Staatstheorie oder Rechtsphilosophie – kein Thema war Dürrenmatt zu abstrakt, kein Denkgebäude zu groß, kein politisches Thema zu heikel.

Er besuchte den Teilchenbeschleuniger CERN in Genf und schrieb Essays über das Lebensrecht Israels – und zwar zu Zeiten, da der linksliberale Mainstream das Lager längst gewechselt hatte: „Den Juden gegenüber hat sich die Welt nicht verändert, verändert haben sich nur die Begründungen, die man gegen sie ins Feld führt. Lagen sie einst im Glauben, später in der Rasse, liegen sie nun im Imperialismus, den man zwölf Millionen Juden andichtet. Selbst in der Schweiz werden an den Ersten-Mai-Feiern Anti-Israel-Parolen herumgetragen, zusammen mit Spruchbändern gegen den Faschismus“, notiert Dürrenmatt.

Der Islam als Sprengbombe

Er war politisch interessiert und hellsichtig. Den Afghanistankrieg der Sowjetunion in den 1980er Jahren verteidigte er: „Man vergisst ganz, dass es dort eine große fundamentalistische Islambewegung gibt und dass die Sowjetunion 50 Millionen oder noch mehr Mohammedaner zählt. Der Islam ist die irrationale Sprengbombe unserer heutigen Zeit. … Ich begreife da die Russen.“

Grundsätzlich angenehm ist diese Biografie auch in ihrer Distanz zu möglichen Konjunkturfaktoren. Wenn Journalisten zu Jubiläen mit Formeln wie „wiederentdeckt“ oder „in Vergessenheit geraten“ hantierten, müsse das nicht stimmen, so Weber. „Ein Blick auf die Statistiken von Buchhandel und Theateraufführungen mag da objektivere Werte und ein differenziertes Bild vermitteln“, schreibt er und wartet mit unglaublichen Zahlen auf: „Etwa halbjährlich legt der Diogenes Verlag die häufig für die Schullektüre verwendeten Texte wie ‚Der Besuch der alten Dame‘ oder ‚Die Physiker‘ in Auflagen von 50.000 Exemplaren auf.“

Immer noch erfolgreich

Der tote Dramatiker Dürrenmatt ist, was seine Zirkulation auf deutschen und internationalen Bühnen angeht, höchst lebendig – und lukrativ. Er zählt laut Statistik des Deutschen Bühnenvereins zu den fünf meistgespielten Dramatikern des 20. Jahrhunderts und spielt jährlich mehrere Hunderttausend Franken ein. Auch die deutschsprachige Auflage seiner Kriminalromane liegt bei 10 Millionen.

1964 kaufte sich Dürrenmatt für 1000 Schweizer Franken einen Kakadu, genauer: eine Kakadudame. Sie bekam den Namen Lulu (wie Wedekinds gleichnamige Version der Pandora aus der griechischen Mythologie?) und sie gehörte jahrzehntelang zur Familie, überlebte diverse Hunde und einen Nymphensittich namens Shakespeare. Nur als 1984, ein Jahr nach dem Tod von Dürrenmatts Ehefrau Lotti, eine neue Frau namens Charlotte Kerr Einzug in sein Leben hielt, wurde die weiß gefiederte, alte Dame ganz schön eifersüchtig und krakeelte lautstark dazwischen, sobald Kerr ihren „Fritz“ auch nur anzusprechen wagte.

(autotranslated) Charlotte Kerr und Friedrich Duerrenmatt, aufgenommen in Locarno, August 1990. Der Bundesrat hat gruenes Licht gegeben fuer den Bau eines Duerrenmatt-Zentrums in Neuenburg. In dem Haus, das der Schriftsteller bis zu seinem Tod bewohnte, sollen seine Bilder und Zeichnungen ausgestellt werden. Das Zentrum wird im Jahr 2000 eroeffnet. Duerrenmatts zweite Frau, Charlotte Kerr, hat das Haus oberhalb von Neuenburg zur Verfuegung gestellt. Die Plaene fuer den Umbau stammen von dem Tessiner Architekten Mario Botta, die Kosten werden auf 6 Millionen Franken geschaetzt.
Dürrenmatt mit seiner zweiten Frau Charlotte Kerr, August 1990
Quelle: picture alliance/KEYSTONE

Unbedingt sehenswert für jeden Fan ist sein ehemaliger Wohnort oberhalb von Neuchatel in der Westschweiz. Wer das „Centre Dürrenmatt“ besucht, hat nicht nur das Gefühl, ein einzigartiges Dichter-Refugium zu betreten (mit herrlichem Ausblick auf den Neuenburger See und die Alpen). Nein, er besichtigt ein ganzes Künstler-Universum. Dürrenmatt eignete sich Häuser an, indem er sie ausmalte. Und er eignete sich Stoffe an, indem er sie weiterformte. Als Denker und Essayist, aber auch als Gourmand bleibt Dürrenmatt ein Planet, den man in seinen Künsten und Marotten immer wieder neu entdecken kann.

Ulrich Weber: Friedrich Dürrenmatt. Eine Biographie. Diogenes, 714 S., 28 €.

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