
Musiker Ellis, Cave: »Es war ein Geschenk«
Foto: Kevork DjansezianAuf dem Balkon, bei einer Tasse Tee und einer Zigarette, vielleicht einem Gläschen Wein oder Absinth, kommen einem dieser Tage ja oft die besten Ideen. So erging es wohl auch dem Musiker Nick Cave, der im Lockdown im englischen Brighton offenbar viele solcher Pausen einlegte. So viele, dass er sich auf einem Song seines neuen Albums sogar »Balcony Man« nennt.
Dort draußen, auf dem Austritt vor seinem Haus, fühlte sich der 63-jährige gebürtige Australier, bekannt für seine von Schmerz und Obsessionen getriebene Gothic-Rockmusik – wahlweise wie ein 200 Pfund schwerer Sack voller Blut und Knochen oder wie ein ebenso gewichtiger Packeis-Block, der allmählich in der Sonne schmilzt. Zwischendurch, das lernt man außerdem im Songtext, träumte er aber auch, er könne so leichtfüßig tänzeln wie Fred Astaire.
Aus diesem Isolationsdelirium, in dem nur die Gedanken weit schweifen können, entstand in den vergangenen Monaten ein Album, das Cave »Carnage« – also »Gemetzel« – nannte und das er in seinem Tagebuch-Blog »Red Hand Files« als »brutal, aber sehr schön« bezeichnet, »eingebettet in eine gemeinschaftliche Katastrophe«.
Es ist seine erste Duo-Veröffentlichung mit dem Violinisten und Komponisten Warren Ellis, wie Cave ebenfalls Australier im britischen Exil – und schon seit 1994 Mitglied in Caves Band, den Bad Seeds, zwischendurch auch beim Lärmprojekt Grinderman. Spätestens seit dem Album »Push the Sky Away« hat Ellis bei den Bad Seeds die Funktion des musikalischen Leiters inne, schön zu sehen auch in der Dokumentation »One More Time with Feeling«, die 2016 erschien. Zusammen nahmen Ellis und Cave bereits mehrere erfolgreiche Kinosoundtracks auf, darunter für den Western »Die Ermordung des Jesse James durch den Feigling Robert Ford«, für »The Road« und »Wind River«.
»Es fiel einfach vom Himmel«
Entsprechend dicht und suggestiv ist nun auch die Atmosphäre auf »Carnage«, das Cave und Ellis am Donnerstag ohne große Vorankündigung veröffentlichten. Gleich der erste von acht Songs ist klassische Cave-Metaphysik: Der Protagonist watet in die Mitte eines offenbar reißenden Flusses, dorthin, wo es am tiefsten und gefährlichsten ist – und überlässt sich todessehnsüchtig den Gewalten von Gott und der Natur: »There are some people trying to find out who/ There are some people trying to find out why«, raunt Cave in das rastlose Tosen tribaler Rhythmen, die an frühe Bad-Seeds-Alben wie »Tender Prey« erinnern.
»Hand of god, hand of god, hand of god«, fleht der Sänger mit hoher Stimme händeringend nach einem Sinn, einer lenkenden Hand im Schicksalsstrom der Pandemie. Mit elektronischem Pulsieren geht es weiter in »Old Time«, diesmal in schwarzen, apokalyptischen Wäldern und frostigen Feldern, wo Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einem fiebrigen Blues transzendieren: »We took a wrong turn somewhere Into the old time«, ahnt Cave. An dieser düsteren Weggabelung der Menschheitsgeschichte sterben Träume und Utopien: »Everyone's dreams have died«.

Warren Ellis und Nick Cave im Home Studio: Seit Mitte der Neunzigerjahre arbeiten die beiden Musiker eng zusammen.
Foto: Jen Ewbank / Kobalt MusicAllerdings nicht auf Caves Balkon in Brighton. Es habe überhaupt keinen Plan gegeben, ein Album herauszubringen, erzählt der Sänger im Infoschreiben zur Platte, er habe immer wieder dort draußen gesessen und »gelesen, zwanghaft geschrieben und einfach nur über Dinge nachgedacht.« Zusammen mit Ellis sei aus diesen Skizzen dann in mehreren Jam-Sessions und einem wundersam »beschleunigten kreativen Prozess« Musik für ein Album geworden. »Es fiel einfach vom Himmel«, sagt Cave, »es war ein Geschenk«.
Therapie für die Zeit des kollektiven Seelengemetzels
In den eher lichteren, balladesken Stücken, von denen einige auch musikalisch an Caves optimistisches voriges Album »Ghosteen« anknüpfen, formuliert er Gebete gegen die Corona-Lethargie, träumt sich in Regenwälder und Lavendelfelder hinein, nach Afrika oder New Mexico. Wie immer in den vergangenen Jahren nach dem Tod seines damals 15-jährigen Sohnes Connor, der 2015 in East Sussex von einer Klippe fiel, tastet Cave in den Szenerien seinen Songs nach Gefühlen und Empfindungen, die in Tristesse und Gram der Gegenwart zu verblassen drohen, egal ob Schmerz, Euphorie, Liebe oder Lust.
Manchmal, wie im schönen, seelenvollen »Albuquerque«, scheinen sich diese fernwehen Verse konkret auf die Lockdown-Situation zu beziehen: »And we won’t get to anywhere, baby/ Unless I dream you there/ And we won’t get to anywhere, darling/ Anytime this year«, singt er darin – ein Seufzen, das wohl jeder gerade im Homeoffice-Kerker und Kinderbetreuungsstress nachvollziehen kann, der von der Welt da draußen träumt.
Anders als bei seinem aufgezeichneten Konzert aus dem leeren Londoner Alexandria Palace im vergangenen Jahr, bei dem Cave zwar intim, aber auch etwas zu hermetisch ein Best-of seiner Karriere gegen den Corona-Blues ins Klavier hämmerte, wird er hier, getragen von den schwirrenden, stürmenden oder ganz sachten Arrangements von Warren Ellis, auf wirkungsvollere Art zu einem Therapeuten für diese Zeit des kollektiven Seelengemetzels. Mit Phantomschmerz kennt sich keiner besser aus als der Balkonprediger Nick Cave.
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