Die Zukunft der Europäischen Union ist in dieser Serie schon Vergangenheit. Es ist das Jahr 2074, ein globaler Blackout hat den Kontinent ins Mittelalter zurückbefördert, die Menschen rotten sich in Stämmen zusammen, um einander zu bekriegen. In einer Szene werfen sich die Kämpfer einer Miliz Uniformen um, die aus den Beständen eines Heeres stammen, das in den Zwanzigerjahren dieses Jahrhunderts zur Verteidigung des vereinten Europas aufgebaut wurde.
Was in 50 Jahren von Europa übrig geblieben sein wird: Tarnuniformen mit leuchtend blauen Emblemen. Die Netflix-Serie »Tribes of Europa« ist ein postapokalyptisches Szenario, in dem die Ideale der EU wie aus einer fernen Zeit auf dem verwüsteten Kontinent nachhallen.
Die Milizionäre mit den EU-Uniformen nennen sich Crimsons und fühlen sich den Grundsätzen der untergegangenen liberalen Demokratien verpflichtet; ihre Gegenspieler sind die Crows, martialisch bemalte Krieger, für die allein das Recht der Stärkeren zählt. Die Crimsons (»We defend, we never attack!«) kurven in mobilen Einheiten durch zerbombte Städte und wilde Wälder; die Crows residieren in den Ruinen von Berlin, wo sie von Sklaven eine Superdroge namens »Wolk« brauen lassen, mit der sie sich dann in Leder, Lack und Latex gehüllt auf Partys zudröhnen. Ein bisschen wie die Menschen im Prä-Corona-Berlin: breit, aber sexy.
Das Ende der westlichen Zivilisation
Zwischen den Fronten kämpfen drei Geschwister, die ihren Stamm bei einem Angriff der Crows verloren haben. Der eine Bruder (Emilio Sakraya) wird nach Berlin verschleppt, wo er im männlichen Harem einer Crow-Kämpferin dienen muss. Die Schwester (Henriette Confurius) schließt sich den Crimsons an, um dort mit der Armbrust für die Freiheit zu kämpfen. Der andere Bruder (David Ali Rashed) gelangt in den Besitz eines magischen Würfels, der ihn zur Lösung des Rätsels führen soll, warum die westliche Zivilisation überhaupt untergegangen ist.
Ein ausladender Mystery-Plot, ein drastisches Endzeit-Setting, Heldinnen und Helden im späten Teenager-Alter – in vieler Hinsicht erinnert »Tribes of Europa« an »Dark«, die einzige deutsche Serie, mit der Netflix bislang einen nachhaltigen internationalen Hit landen konnte.
Der Algorithmus gibt das Genre vor: Die Dystopie, die negative Vision der Zukunft, ist beim jungen Zielpublikum extrem beliebt – wohl auch deshalb, weil darin kollektive Ängste und Katastrophenerfahrungen verarbeitet werden können. Was der atomare GAU für die Fridays-for-Future-Generation bei »Dark« war, ist nun in »Tribes of Europa« das gefühlte Ende eines grenzenlosen Zusammenlebens bei den vom Brexit und von der Coronakrise geprägten Heranwachsenden von heute.
»Die Tribute von Panem« lassen grüßen
Die Teen-Angst wird am Anfang recht formelhaft befeuert, das dekadente Brot-und-Spiele-Amüsement im Crows-Berlin erinnert an die Blockbuster der Kinoreihe »Die Tribute von Panem«, das Überlebens-Setting im denaturierten Europa an die Survival-Saga »The 100«. Doch über die sechs Folgen der ersten Staffel (weitere sind angedacht, aber von Netflix noch nicht geordert) entwickelt die Serie einen eigenen Ton.
»Tribes«-Schöpfer Philip Koch hat zuvor unter anderem einen stilvollen Vampir-»Tatort« gedreht sowie das Gamer-Drama »Play«, die einzige deutsche Produktion, in der Schülerinnenrealität und Spielweltrealität ineinander verzahnt waren. Er gehört zu den jungen deutschen Fernsehkreativen, die großes Genre-Kino können, aber auch die level-basierte Erzähllogik von Computerspielen für sich nutzen. Für den malerisch zugewucherten Potsdamer Platz in »Tribes of Europa« ließ er sich offensichtlich vom San Francisco in »Planet der Affen« inspirieren; gekämpft wird in seiner Serie zuweilen wie im apokalyptischen Rollenspiel »Fallout«.
Die jungen Darsteller befreien sich nach und nach vom engen Gamer-Rollenkorsett, die älteren gehen mit ihren Figuren in darstellerische Extreme. Melika Foroutan, noch immer eines der unentdeckten Großtalente des deutschen Fernsehens, verkörpert eine Crows-Generalin, die sich den Harem hält, in dem einer der Brüder dienen muss. Vor dem Liebesakt holt Foroutan ein Messer raus und sagt: »Wenn du vor mir kommst, schneid ich dir die Kehle durch.«
Ödipale Schlachten
Ob »Tribes of Europa« für 16-Jährige taugt, darüber kann man streiten. Aber in Teen-Dystopien werden Initiationen ins Erwachsenenleben oft als explizite Gewaltszenen durchgespielt. In diesem Fall sind die Gewaltszenen besonders explizit.
Der Bruder muss den eigenen Vater in der Crows-Arena töten, um selbst am Leben zu bleiben. Die Schwester, so will es der Plot, soll den Vater eines Kameraden töten, um die eigene Familie zu retten. Wo man bei »Tribes of Europa« auch hinschaut, überall toben ödipale Schlachten.
Doch bei aller Düsternis: Die Idee, dass die Kids mit der Armbrust für ein eines Tages wiedervereintes Europa in die Schlacht ziehen, lässt die Dystopie beinahe wie eine Utopie wirken.
»Tribes of Europa«, ab Freitag bei Netflix
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