Fangen wir ausnahmsweise mal mit dem Ende an: In diesem »Tatort« wird zum Schluss zwar ein an Gewaltszenen sattes Mordrätsel gelöst, danach gibt es aber noch einen saftigen Cliffhanger, der für das Publikum erst im Frühling nächsten Jahres aufgelöst wird. Es läuft ja nur ein Saar-»Tatort« pro Jahr; der nächste soll frühestens ab diesem Mai gedreht werden.
Trotzdem hat man keinen Zweifel daran, dass man auch bei der Ausstrahlung 2022 wieder problemlos in den Plot einsteigen kann. Denn er ist – bislang jedenfalls – sensationell gut gebaut. In der aktuellen Folge ist man sofort wieder in der horizontalen Handlung rund ums Saar-Ermittlerteam drin, die am Ostermontag vor einem Jahr ihren Anfang nahm.
Sie erinnern sich? Die Kommissare Leo Hölzer (Vladimir Burlakov) und Adam Schürk (Daniel Sträßer) teilen ein grausames Geheimnis aus der Jugend; der eine hat den gewalttätigen Vater des anderen ins Koma geprügelt, die Tat haben die beiden über einen Brand verschleiert. Nun ist der Alte (Torsten Michaelis) nach 15 Jahren aufgewacht, und die inzwischen erwachsenen Jugendfreunde stellen sich ängstlich die Frage, ob er sich an die Tat erinnern kann.
Weidmannshorror
Gleichzeitig geht im Wald jenseits der Stadtgrenze Saarbrückens ein Bogenschütze um, der Jagd auf Menschen macht. Eine Abiturientin wurde tot mit offenen Wunden und geöffneten Innereien im Moos gefunden, auf die Lippen hatte ihr jemand einen Tannenzweig gelegt, so wie es Jäger bei ihrer erlegten Beute tun. Weidmannshorror, Weidmannsdank. Die Mitschüler des Opfers scheinen mehr über die bestialische Tat zu wissen, als sie der Kriminalpolizei mitteilen wollen.
Die Kommissare müssen also die Lügen der anderen aufdecken, während sie ihre eigenen Lügen am Leben zu halten versuchen. Drehbuchautor Hendrik Hölzemann und Christian Theede – die beiden zeichneten auch für die Auftaktepisode des jungen Saar-Teams verantwortlich – gelingt die perfekte Verschränkung dieser gegenläufigen Dynamiken aus Aufdecken und Vertuschen. Mit Hölzemann und Theede erzählen zwei, die offenbar die erste Szene der ersten Folge noch im Kopf haben, wenn sie die letzte der zweiten entwickeln – und dann möglicherweise auch schon wieder die Erste der Dritten vor sich sehen.
Die wilde Natur als Seelenspiegel
Zudem finden die beiden Filmemacher in der Umgebung von Saarbrücken ein Setting, in der die aufgewühlte, komplizierte Seelenlage der Ermittler gespiegelt wird. Klippen, Sturzbäche, wildes Grün. Dieser »Tatort« besitzt neben einem starken Plot auch eine starke Optik.
Bettina Müller / HR
Es gibt einiges, was man monieren kann: Wie eh und je im Saarbrücken-»Tatort« sind die weiblichen Ermittlercharaktere dazu verdammt, Stichwort-Prosa für die Kollegen aufzusagen, und die männlichen Ermittlercharaktere sind streckenweise überzeichnet. Auch entwickelt »Der Herr des Waldes« nicht eine solche psychologische und politische Schärfe wie die Folge davor über die Rückstände der deutschen NS-Vergangenheit in der bundesdeutschen Gegenwart.
Aber das alles wird wettgemacht durch den langen, ruhigen Atem, mit dem die Verantwortlichen die verschiedenen Ebenen und Tonalitäten ihrer Story verzahnen. Das ist vor allem deshalb bemerkenswert, weil der Krimi im Coronasommer 2020 unter schwierigsten Bedingungen entstanden ist – als die Filmteams nach dem ersten Shutdown bei den Drehs erst mal zum Improvisieren gezwungen waren.
Davon merkt man dem Saar-Schocker nichts an. Klug, kühl und grausam wird das Publikum in ein Schreckensszenario gelenkt, das mit dem Abspann nicht endet.
Bewertung: 9 von 10 Punkten
»Tatort: Der Herr des Waldes«, Ostermontag (!), 20.15 Uhr, Das Erste
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