Dieses Pariser Museum, 1793 in einem ehemaligen, etwas verwahrlosten Königsschloss gegründet, wollte erlesene Kunst für jedermann zugänglich machen – was offenbar gelang. Ein etwas arroganter deutscher Besucher des Louvre schrieb 1810 von Fischweibern, Soldaten, Bauern in Holzschuhen, Sackträgern mit der Tabakspfeife in der Hand, die die Säle besuchten. Das sei löblich – und ebenso ein »schmerzlicher Jammer«, all der »Pöbel« zwischen den »Geniuswerken«.
Dass das berühmteste Museum der Welt im Jahr 2021 sogar zu jedermann nach Hause kommt, ist eine passende Weiterentwicklung dieser frühen Öffnungsstrategie. Seit Kurzem hat man von seinem Computer oder Handy aus Zugriff auf 480.000 Werke, auf Skulpturen, Gemälde, Zeichnungen im Louvre.
Die Aura der Originale
Diese neue Offenheit ist eine Revolution. Der Blick in die Datenbank ermöglicht einen Blick hinter die Kulissen, schon nach ein paar Mausklicks sieht man das, was sonst in unergründlichen Sphären verborgen ist, was in den Depots liegt oder in Grafikschränken aufbewahrt wird. Womöglich hat der Louvre gezögert, sich auf diese Weise zu entmystifizieren, schließlich geht durch die Fotos die Aura der Originale ein Stück weit verloren.
Doch der Louvre will eben – obwohl oder gerade weil ihm vorwiegend historische Werke gehören – den Anschluss an den Geist des 21. Jahrhunderts nicht verpassen. Dem Popsuperstar Beyoncé erlaubte er vor ein paar Jahren deshalb, im Museum ein Musikvideo zu drehen. Kunsthistoriker feierten das 2018 veröffentlichte Video als historischen »Eingriff« in die westliche und auch sehr weiße Kunst, für die der Louvre steht. Beyoncé stellte durch ihre Bildersprache den hausgemachten Kanon des Louvre in Frage.
Wie ein Gegenbild zu Leonardos weltberühmter »Mona Lisa« wirkte ein im Video aufscheinendes Porträt, das die Malerin Marie-Guillemine Benoist im Jahr 1800 gemalt hat und eine schwarze Frau namens Madeleine zeigt. Im Grunde nahm Beyoncé vorweg, was mit der Digitalisierung weiter gefördert wird: neue Blickachsen jenseits der Anordnungen vor Ort zu schaffen, andere gedankliche Verbindungen herzustellen.
Und obwohl das Design der Datenbank schmerzhaft spröde wirkt, obwohl manche Abbildung wie ein schneller Schnappschuss eines Gemäldes zu sein scheint, ist die Fülle doch verführerisch. Allein unter dem Stichwort »Porträt« werden mehr als 39.000 Werke angezeigt, man bleibt an altrömischen Erinnerungsbildern hängen oder klickt das Bildnis von Johann II. dem Guten an, der im 14. Jahrhundert König und Kriegstreiber der Franzosen war. Natürlich findet sich problemlos die »Mona Lisa«; das Porträt von Madeleine seltsamerweise nicht.
Überhaupt, die »Mona Lisa«. Wer an den Louvre denkt, denkt reflexhaft an dieses Porträt. Im Museum selbst löst es stets einen Sog aus, die Drängelei davor lässt alle anderen Werke unbedeutender erscheinen. Das haben die Kuratoren in den vergangenen Jahren eher noch forciert, der Louvre zehrt seit Langem schon vom Mythos der »Mona Lisa«, nicht umgekehrt. Viele der zehn Millionen Besucher, die vor der Pandemie den Louvre besuchten, kamen wegen dieser Frau und ihres Lächelns. Nun, im Digitalen, ist das Porträt nur eines unter vielen, es steht in einer Reihe mit anderen Werken, hat keine Sonderrolle und kein Panzerglas.
Man kann Stunden damit verbringen, sich durch die Jahrhunderte – sogar Jahrtausende – zu zappen, durch künstlerische Gattungen und Motivgruppen. Die großen Entwicklungslinien der Kunstgeschichte werden plötzlich nachvollziehbar. In der nachantiken Kunst waren die Motive lange christlich geprägt, dann auch mythologisch; parallel entwickelte sich die Porträtkunst, danach die Landschaftsmalerei: Beim Durchscrollen merkt man, wie sich die Natur, vorher bestenfalls Hintergrund, auf einmal verselbstständigte und in den Vordergrund rückte.
Die meisten Werke kommen aus Frankreich, danach folgt die italienische und dann die niederländische Kunst. Mit deutschen Künstlern haderten die Franzosen lange. Der Louvre besitzt nur ein Gemälde Albrecht Dürers, es ist das Einzige in ganz Frankreich: ein Selbstporträt, das womöglich für die Braut des Künstlers bestimmt war.
Auch wenn man nur in die altmeisterlichen Bestände des Louvre eintauchen will, dauert es nicht lange, bis man auf die grauenvolle deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts stößt. Wenn man »Dürer« in das Suchfeld eingibt, erscheint das Porträt eines kleinen Jungen, das ein unbekannter Künstler im Stile Dürers geschaffen hat. Das Bild befindet sich in einem Depot in Straßburg, es war während des Zweiten Weltkrieges von den Nazis nach Deutschland verbracht worden, ging in die Sammlung Hermann Görings ein. Später wurde es gemeinsam mit vielen anderen Raubkunstwerken an Frankreich restituiert, die eigentlichen Eigentümer dieses Werkes wurden nie ausfindig gemacht.
Die Datenbank zeigt auch: Der Louvre wurde früh selbst zum Sujet, 1841 zum Beispiel malte der Schotte Patrick Allen Fraser die Grande Galerie. Die Säle blieben ein beliebtes Motiv, etwa bei der deutschen Fotokünstlerin Candida Höfer, die dem Museum 2005 eine Serie widmete. Dann kam, viel opulenter und lauter: Beyoncé. Das Video hat der Louvre noch nicht in seine Sammlung aufgenommen. Will das Museum wirklich im Hier und Jetzt ankommen, wäre das eine gute Idee.
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