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Der liebe Gott als Pianistin - FAZ - Frankfurter Allgemeine Zeitung

Das Schwierigste soll leicht klingen und mühelos, die Überwindung aller Widerstände zurückkehren in ein befreites Spiel. Insofern kann die Grazie des Jongleurs Rastelli eine „Schlüsselfigur zur musikalischen Interpretation“ (Theodor W. Adorno) sein. Wer würde für dieses besondere, magische „Mehr können als es können“ leidenschaftlicher bewundert werden als die argentinische Pianistin Martha Argerich? Aber der Beifall ist für sie zur Belastung geworden; er hat sie erkennen lassen, dass im Lob mehr Zudringlichkeit steckt als im Tadel. Sie hadert mit den Hymnen, die auf sie selbst dann angestimmt werden, wenn sie nach eigener Überzeugung schlecht gespielt hat. Doch nach Einschätzung ihrer Bewunderer kann sie, „die größte Pianistin“ der Welt, nicht schlecht spielen. Sie ist dem Druck ausgesetzt, Erwartungen gerecht zu werden, die sie selber geweckt hat: immer so spielen zu müssen, als wandle der liebe Gott als Pianistin auf Erden.

Wie in einem Abwehrreflex hat sie einmal gesagt: „Ich liebe es, Klavier zu spielen, aber ich mag es nicht so gern, Pianistin zu sein.“ Im Verlauf ihrer langen Laufbahn hat es denn auch, wie bei dem von ihr verehrten Vladimir Horowitz, lange Jahre gegeben, in denen die Virtuosa die Arena der großen Konzertsäle gemieden und weder Konzerte noch Solo-Recitals gespielt hat. Stattdessen hat sie sich mit Freunden, unter ihnen generös geförderte junge Musiker, bei ihrem Festival von Lugano der Kammermusik gewidmet. Ende der neunziger Jahre hat sie den Kampf gegen eine schwere Krebserkrankung gewonnen.

Das Klavier als Verlobter

Die in Buenos Aires geborene Martha Argerich, Enkelin jüdischer Immigranten, brachte jene unbegreifliche Gabe mit zur Welt, die Bruno Walter mit dem Paradox „angeborene Technik“ bezeichnet hat. Ihr erster Lehrer war der italienisch-argentinische Pianist Vincenzo Scaramuzza, der sie lehrte, „mit den Fingern zu singen wie Belcanto-Soprane wie Maria Malibran oder Giulia Grisi“. Sie war acht Jahre alt, als sie in Buenos Aires mit Mozarts Konzert in d-Moll KV 466 debütierte. Aber bald schon sperrte sie sich gegen das Drängen des Lehrers und ihrer Eltern, das Klavier als Verlobten zu sehen. Mit vierzehn Jahren ging sie, unterstützt durch die Regierung des Diktators Juan Perón, zum Studium bei Friedrich Gulda in Wien, für sie die „größte Inspiration meiner Laufbahn“. 1960 gelang ihr eine der brillantesten Debüt-Platten überhaupt: Das Allerschwerste – die Staccati, die Akkordbrechungen und die glitzernden Passagen von Frédéric Chopins cis-Moll-Scherzo; die auf beide Hände verteilten Repetitionen auf einem Ton von Serge Prokofjews Toccata; das Oktaven-Gedonner der Sechsten Ungarischen Rhapsodie von Franz Liszt – meisterte sie so, dass man sie früher wohl der Zauberei bezichtigt hätte. Cheerleader des Beifalls war Vladimir Horowitz.

1961 floh sie aus dem Konzertleben ins italienische Montcalieri (Piemont), um bei Arturo Benedetti Michelangeli zu studieren. Gefragt, was er ihr in den nur vier Lektionen im Verlauf von achtzehn Monaten erteilte, erwiderte der geheimnisumwitterte Perfektionist: „Ich habe eine Menge für das Mädchen getan. Ich habe sie die Musik der Stille gelehrt.“

Danach hörte sie für eine Zeitlang auf zu spielen, trug sich mit dem Gedanken, als Sekretärin zu arbeiten und heiratete den Komponisten Robert Chen, von dem sie sich kurz vor der Geburt ihrer ersten Tochter trennte. (Zwei weitere Töchter stammen aus der Ehe mit dem Dirigenten Charles Dutoit und dem Pianisten Stephen Kovacevich). Zum Concours Reine Elisabeth, zu dem sie von ihrer Mutter angemeldet worden war, reiste sie 1964 nach Brüssel, trat aber nicht an.

Von berstender Energie und Schnelligkeit der Phantasie

Sie traf dort auf den Pianisten Stefan Askenase, der sie zu einem Neubeginn ermutigte. 1965 gewann sie den Chopin-Wettbewerb in Warschau. Die Rückreise führte sie nach London, wo sie für EMI Werke ihres Wettbewerbs-Repertoires aufnahm. Da sie sich wenige Wochen später an die Deutsche Grammophon band, wurde das die Aufnahme erst 34 Jahre später, und soeben zum zweiten Mal, veröffentlicht. Mehr als diese „Legendary 1965 Recording“ offenbart ihre Platte von 1967 charakteristische Elemente ihres Spiels: stürmisch und rhapsodisch, kämpferisch und pianistisch kühn, von berstender Energie und Schnelligkeit der Phantasie.

Ihr Repertoire umfasst (diskographisch) die Werke von 33 Komponisten. Wie verwunderlich, dass die Klaviersonaten von Haydn, Mozart, Schubert und Beethoven (mit wenigen Ausnahmen) ebenso fehlen wie die meisten Konzerte von Mozart, das vierte und das fünfte von Beethoven wie die beiden von Brahms. Liegt es womöglich daran, dass ihr, wie ein Pianist und Musikproduzent im Gespräch sagte, rhapsodisch schweifende Konzerte besser liegen als die mit einer strengen Architektur? Sie gehört, wie Horowitz, zu den Pianisten, deren Spiel sich in immer neuer Varianten als Prozess vollzieht, und nicht zu denen, die sich, wie Michelangeli oder Krystian Zimerman, mit ausgefeilten Artefakten präsentieren. Ihr als quecksilbrig beschriebenes Spiel kann sich folglich in Aufführungen besser entfalten als bei einer Studio-Produktion.

Zu den Schwerpunkten ihres Repertoires gehören Chopin und Schumann. „Wer Chopins Werke interpretiert“, heißt es in Hubert Stuppners „Mephisto Walzer“, brauche „gesegnete Hände, einen träumerischen Blick und ein poetisches Herz.“ Bei Martha Argerich sind es Eroberhände. Das hexenhaft schnelle Finale der zweiten Sonate, in dem beide Hände unisono einen gespenstischen Wind über die Gräber wehen lassen, oder die irrlichternden Passagen im Presto der h-Moll-Sonate treibt sie in einen waghalsigen Overdrive. Wie sie im Presto con fuoco, Nr. 16 der Préludes Op. 28, die Sechzehntel zu einem Glissando beschleunigt oder die Laufpassagen des finalen d-Moll-Prélude peitscht, ist als Durchbrechung der akustischen Schallmauer faszinierend, manchmal aber auch irritierend. Erstaunlich, dass sie die Etüden-Zyklen, den Kosmos von Chopin Klavierkunst, nicht gespielt hat, auch nicht die Vierergruppen der Balladen wie der Scherzi, nur einzelne Nocturnes und Mazurken; umso kostbarer die Aufnahme der drei Mazurken des Opus 59.

„Der Liszt-Künstler“ – noch ein Mal mit Stuppner – ist „zur Bewusstseinsspaltung zwischen Dämonie und Heiligkeit“ gezwungen. Dass Liszt-Pianisten „Höllenkünstler“ sind, bestätigt sie mit zwei prometheischen Herausforderungen: der h-Moll-Sonate und dem Es-Dur-Konzert unter Claudio Abbado. Der Dirigent ist, wie auch in Chopins e-Moll-Konzert, so behutsam-klug, der „Herrin“ zu folgen: ihr Zeit zu geben für mondlicht-beschienene lyrische Passagen und molto agitato mitzugehen bei den Etüden-Sequenzen und den dramatischen Linke-Hand-Trillern am Endes des Kopfsatzes. Bei vielgespielten Werken wie dem b-Moll-Konzert von Tschaikowsky oder dem d-Moll-Konzert von Rachmaninow gelingt es ihr, den diesen Werken ursprünglich innewohnenden Schauer erbeben lassen. Zu weiteren Kabinettstücken gehören ihre Einspielungen von Maurice Ravels gebrochen-heiterem Konzert und des dritten Konzerts von Sergej Prokofjew.

Das Lebenswerk von „La Martha“ ist dokumentiert durch zwei umfängliche Editionen: mit zwanzig CDs, die sie für EMI (heute Warner) gemacht hat, und vierzig CDs für die Deutsche Grammophon. An diesem Samstag wird sie achtzig Jahre alt.

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