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Lockdown-Wildwuchs: Corona-Haare? Für manche gelten andere Regeln - WELT

Manche Konflikte lassen sich nur in Superlativen beschreiben. Wie etwa dieser Jahrhundert-Clash: deutscher Fußball gegen deutsches Handwerk. „Mit großer Verwunderung mussten wir daher an den vergangenen Spieltagen feststellen, dass ein Großteil der Fußballprofis sich mit frisch geschnittenen Haaren auf dem Platz präsentierte“, schrieb der Zentralverband Friseurhandwerk in einem offenen Brief vom 12. Januar – mit ungezügelter Empörung und erfreulichem Gespür für konkrete Poesie: „Einrasierte Scheitel, auf wenige Millimeter getrimmtes Nacken- und Schläfenhaar, saubere Konturen. Frisuren, die nur professionelle Friseurinnen und Friseure mit Profi-Equipment schneiden können.“

Was die Funktionäre ärgert: Die Friseursalons in ganz Deutschland müssen seit dem 16. Dezember geschlossen bleiben. Fußballprofis aber wie z. B. der stets adrett coiffierte Nicolás González – die vor leeren Stadien spielen, aber eben auch vor Fernsehkameras – lassen keinen Zweifel daran, dass für sie andere Regeln gelten. Corona-Haare?

Nicht bei einem Marktwert in zweistelliger Millionenhöhe und einer ähnlich gewaltigen Zahl von Instagram-Followern. Was soll aus den Trikotverkäufen, den Werbeverträgen, den bezahlten Posts werden, wenn das Zentralgestirn plötzlich mit rausgewachsenem Undercut zu sehen ist? „Frisch frisierte Fußballstars setzen eine gesamte Branche unter Druck“, mahnt der Friseurverband.

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Und so richtig es ist, die Kleinselbstständigen zu unterstützen: Man kann es auch ganz anders sehen. Für Fußballer gelten andere Regeln, genau wie für Schauspieler, Popstars – oder Kanzlerinnen. „Frau Bundeskanzlerin, wer kümmert sich um Ihre Frisur?“, fragte Frauke Ludowig in der vergangenen Woche Angela Merkel in einem RTL-Interview. Manche fanden das unangemessen, die Chefin aber nicht: „Ich habe da ja bekanntermaßen auch Unterstützung durch eine Assistentin. Wir halten natürlich alle sanitären Bestimmungen ein. Dass man langsam grau wird, damit muss man dann leben. Ich freue mich auch, wenn Friseure mal wieder aufmachen können.“

Man mag von ihrer Corona-Politik halten, was man will: Angesichts von Merkels Kommunikationsroutine war das ein Anfall schweren Menschelns. Und gleichzeitig ein selbstbewusster Verweis darauf, dass man in bestimmten Jobs eben anständig auszusehen hat. Auch Lady Gagas Haare bei der Amtseinführung Joe Bidens sahen nicht wuschelig, splissig oder ungepflegt aus. Und keiner hat sich darüber beschwert.

Lässt sich helfen: Angela Merkel
Lässt sich helfen: Angela Merkel
Quelle: via REUTERS

Ergrauen macht sich wie Mehltau breit

Was aber ist mit den vielen Millionen Menschen, die auf keiner Bühne stehen, sondern in den letzten Monaten einfach nur versucht haben, durch den Tag und durchs Leben zu kommen und dabei nicht durchzudrehen – trotz quengelnder Kinder, geschlossener Fitnessstudios und zerplatzter Reiseträume? Deren Sozialleben sich auf Distanzspaziergänge mit Thermo-Teebecher reduziert hat? Neben den echten und manchmal existenziellen Problemen haben die normalen Menschen (keine Assistenten, keine Extrawürste) mit einer Zusatzschikane zu kämpfen: Haare, die lange keinen Profi mehr gesehen haben.

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Was hat man nicht alles gesehen, in den letzten zwölf Monaten. Entscheider in der Digitalkonferenz, deren täppisch hochstehender, ehemaliger Kurzhaarschnitt jede Konzentration zunichtemacht. Allmähliches Ergrauen, das sich wie Mehltau auf den Köpfen breit macht. Spontanglatzen, weil der Kurzhaarrasierer ausgerutscht war und eine Schneise über den Kopf gezogen hatte. Manche Haartypen sind easy: Einer Frau mit langem lockigen Haar reichen ein bisschen Wasser, ein Mittelscheitel und ein paar zufällige Schnitte, schon kann sie das Haupt mit frisch geschnittenen Spitzen schütteln. Aber je kürzer die Frisur, desto mehr Akkuratesse und Regelmäßigkeit sind erforderlich – und der Partnerschnitt birgt gefährlich viel Streitpotenzial, insbesondere jetzt, da die Nerven eh blank liegen.

Nicht wenige, auch der Autor dieses Textes, entschieden sich für vorläufig-wachsen-lassen. Auch wenn der Blick in den Spiegel – oder in die Kamera des Laptops – oft für harsche Überraschungen sorgt. Der Weg zum langen Haar aber, das werden auch andere Corona-Haarhaderer gemerkt haben, ist voller wenig schmeichelhafter Durststrecken. Denn zwischen ratzekahl und schön lange liegt eine endlose Phase (die Dinger wachsen leider pro Monat nur rund einen Zentimeter), in der immer irgendwas nicht stimmt: Haare stehen dümmlich hoch, sie bauschen sich voluminös auf und ruinieren damit die Schädelsilhouette, sie verlangen nach Haarstylingprodukten, die man nach Jahren der Abstinenz nicht mehr kennt.

Explodierte Perücke als Symbol der Verlotterung

Trost spendeten, wie stets, die Sorgen der anderen. Markus Söder versuchte zeitweise, den aus der Form geratenen Schopf wacker hochzugelen. Die Moderatorin Gundula Gause trug ihre Haare zwischendurch zweifarbig, vermutlich weil das professionelle Nachfärben nicht möglich war. Die amerikanische Schauspielerin Eva Longoria („Desperate Housewives“) machte aus der Not einen Nebenjob. „Ich dachte, ich bin reif für grau“, schnattert sie in einem kurzen YouTube-Werbespot und zeigt über dem perfekt alterslos geschminkten Gesicht ihren ungefärbten Haaransatz. „Dann merkte ich: Ich bin es nicht“. Also trägt sie L’Oreal Paris Excellence Crème auf – und eine halbe Stunde später sieht ihr Haar aus wie neu. „Ich bin eine schlechte Föhnerin“, gesteht sie und schließt mit einer abschließenden Liebeserklärung an selbstgemachte Haarpflege: „Zu Hause ist es doch am schönsten.“

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Das sieht der neuseeländische Modejournalist Tim Blanks (Chefkritiker bei „Business of Fashion“) offenbar anders. „2020 war eine Qual. Ich bin ein Wrack“, lautete sein Fazit auf Instagram zum Jahresabschluss. Der in London mit seinem Ehemann lebende Blanks hat in den Lockdown-Monaten seinen normalerweise adrett kurz gestutzten weißen Schopf einfach wachsen lassen. Dieser Explodierte-Perücke-Look wirkt wie ein selbstironisches Symbol der schrittweisen Verlotterung, die wohl viele Menschen zwischen Zoom-Konferenzen und Arbeitstagen im Jogging-Anzug an sich beobachtet haben. Kürzlich ließ sich Blanks die Haare mit einem Staubsauger besonders expressiv außer Form bringen.

Lässt wuchern: Modekritiker Tim Blanks
Lässt wuchern: Modekritiker Tim Blanks
Quelle: Getty Images Entertainment/Getty

Noch kreativer geht man mit der Haarfrage nur in Ostafrika um. In Kenia und Nigeria hat man eine etwas aus der Mode gekommene Frisur neu interpretiert: Das Haar wird zu harten, in alle Richtungen vom Kopfe abstehenden Zöpfen geflochten, die mit bunten Bändern umwickelt werden – schon sieht man dem Virus zum Verwechseln ähnlich. „Pink steht für die Proteinschicht, kastanienbraun für die Fetthülle und Zickzack für die Krone“, erklärt Mable Etambo aus Kibera, einem Slum im Südwesten von Nairobi, in einem Interview mit der Deutschen Welle die Farben der Bänder. Sie hat ihren Töchtern die Corona-Frisur auch aus politischen Gründen verpasst. Der Look sei eine Mahnung, Masken zu tragen und Abstand zu halten.

In Ostafrika nutzt man seine Frisur, um Bewusstsein und Aufsehen für das Coronavirus zu schaffen
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Quelle: LightRocket/Getty Images

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