»Mach jetzt bloß keine verrückte Hirsch-Scheiße«, sagt der große Mann zu dem kleinen Jungen, als er ihn in einer Bahnstation auf eine Bank setzt, um kurz ein paar Sachen zu holen. Macht er natürlich doch, so wie es jeder Zehnjährige tun würde, da ist Gus, oder »Sweet Tooth«, wie er von seinem unfreiwilligen Beschützer Jepperd genannt wird, keine Ausnahme. Was ihn besonders macht, ist sein empfindliches Gehör und sein sehr ausgeprägter Geruchssinn. Na gut, und dann wären da noch seine flauschigen Ohren und sein schon recht stattliches Geweih.
Gus, sehr niedlich gespielt vom viel beschäftigen Kinderdarsteller Christian Convery, ist die Hauptfigur in der Verfilmung der gleichnamigen Comic-Reihe »Sweet Tooth« von Autor und Zeichner Jeff Lemire. In dem post-apokalyptischen Szenario dieser Fantasy-Fabel ist der Junge ein sogenannter Hybride, ein Kind, das mit tierischen Körpermerkmalen geboren wurde. Die genetischen Mutationen traten parallel zum Ausbruch eines rätselhaften und sehr tödlichen Virus auf, daher gelten die Schimären vielen abergläubischen Überlebenden wahlweise als Auslöser der Seuche oder ihr potenzielles Gegenmittel. So oder so, sie werden gnadenlos gejagt.
Der zehnjährige Gus konnte nur deshalb so lange überleben und sich sein kindlich-sonniges Gemüt bewahren, weil ihn sein Vater einsam in einer Auenland-artigen Selbstversorger-Blockhütte in den Wäldern des Yellowstone-Nationalparks aufzog (als majestätische Kulisse diente Neuseeland).
Doch nun ist er in der feindseligen Außenwelt unterwegs, sucht im fernen Colorado seine Mutter, von der niemand weiß, ob sie noch lebt oder ob es sie je gegeben hat. Und hat als einzigen Begleiter einen hünenhaften ehemaligen Football-Profi (Nonso Anozie) mit dunkler Vergangenheit, der auf den Kinderkram so gar keine Lust hat. Im Stich lassen oder gar an die »Last Men« genannten Häscher ausliefern will er das Bambi-Kid aber auch nicht. Den Spitznamen »Sweet Tooth«, also etwa »Naschzahn«, bekommt Gus übrigens wegen seiner Vorliebe für Ahornsirup und andere Süßigkeiten. Doch in den ersten Episoden der achtteiligen ersten Staffel gibt’s erst mal viel Saures.
Nostalgisches Familienpark-Gefühl
Serien-Schöpfer Jim Mickle, der schon in der Vergangenheit Science-Fiction-Stoffe mit Road-Trip-Narrativen verband (u.a. im Vampir-Buddy-Movie »Stake Land«) bedient sich sehr frei bei der äußerst gräulichen und dystopisch-brutalen Vorlage. Ihm gelingt eine hochästhetisch gefilmte Coming-of-Age-Saga, die Motive aus Mark Twains Geschichten über Tom Sawyer und Huckleberry Finn, »Ruf der Wildnis«, »Mad Max« und Cormack McCarthys »The Road« zu einem familienfreundlichen Abenteuerplot verwebt.
Statt Lemires beunruhigendes Motiv der religiösen Untergangs- und Erlösungsfanatiker zu betonen, spielt Mickle mit gemäßigter Naturmystik, etwa wenn den ungleichen Wanderer-Gefährten eine lilafarbene Blumenart auffällt, die nur dort wächst, wo auch die Seuche wütete. Oder wenn Gus gleich zu Beginn im Wald einer Hirschkuh begegnet und das edle Wildtier für seine Mutter hält. Allerliebst.
Zwei zusätzliche Handlungsebenen über einen Arzt, der nach einem Vakzin forscht und eine Frau, die in einem entvölkerten Zoo ein Refugium für Hybrid-Kinder einrichtet, weiten die Original-Story, die man in Prä-Netflix-Zeiten wahrscheinlich in packenden zwei Stunden als Kinofilm erzählt hätte, auf manchmal arg mäandernde Serien-Länge. Zusammengeführt werden die einzelnen Stränge vermutlich erst in der zweiten oder dritten Staffel, sollte »Sweet Tooth« ein Erfolg werden.
Die Voraussetzungen dafür sind nicht schlecht: Die Schauwerte, der gutmütige Humor und das nostalgische Familienpark-Gefühl von Spielberg-Produktionen aus den Achtzigerjahren befriedigen das Bedürfnis nach Eskapismus, könnten die Serie aber auch leicht in harmlosen Kitsch über verfolgte Unschuldslämmer abdriften lassen.
Doch das allzu gegenwärtige Pandemie-Setting, von dem die Produzenten (u.a. Robert Downey Jr.) bei der Entwicklung des Stoffes noch nichts ahnten, sorgt für einen unverhofften Realitäts-Check. Beklemmend sickert der Horror der Aktualität in Szenen, in denen es um misstrauisches Maskentragen, Impfungen und eine Cocktail-Party geht, die in Paranoia und Scheiterhaufen-Hysterie ausartet, nachdem der Gastgeber Symptome einer Infektion zeigt. So offenbaren sich unter dem süßen Zuckerguss dieses Endzeit-Märchens doch noch bittere Wahrheiten.
»Sweet Tooth«: 1. Staffel ab 4. Juni bei Netflix
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