
LKW-Fahrer Yann (Pio Marmai) wurde bei einer Gelbwesten-Demo verletzt. Nun wartet er in der Notaufnahme.
Foto: Cannes Film Festival»Lass mich in Ruhe mit deinen Schuldgefühlen, Macron gewählt zu haben!« Der Streit um die französischen Präsidentschaftswahlen von 2017 hört auch in der Notaufnahme nicht auf. LKW-Fahrer Yann (Pio Marmai) liegt mit einer Wade voller Granatensplitter neben Illustratorin Raphaela (Valeria Bruni Tedeschi), die sich den Arm gebrochen hat. Er war auf einer Gelbwesten-Demonstration auf den Champs-Élysées gegen die Politik Emmanuel Macrons, sie ist ihrer Freundin hinterhergelaufen und dabei ausgerutscht.
Politisches und Privates kollidiert in Catherine Corsinis atemlosen Drama »La Fracture« unaufhörlich – sogar im Titel: Der Bruch kann sich genauso gut auf Raphaelas Verletzung wie auf gesellschaftliche Spaltung beziehen. Versöhnt werden das Politische und das Private nicht in diesem Überraschungsfilm im Wettbewerb von Cannes, nur zusammengeführt, und selbst das gelingt nur an einem Ort, an dem der Ausnahmezustand die Regel ist: auf der Notaufnahme.
Die Pandemie scheint vieles verlangsamt und gedämpft zu haben, auch bei den Filmfestspielen von Cannes. Am roten Teppich herrscht kaum Gedränge, die Reaktionen auf die Filme sind freundlich bis zurückhaltend. Vielleicht ist das Festival ein größer angelegter Test, heimlich vollzogen an ein paar Tausend Filmbegeisterten: Sind wir nach anderthalb Jahren des verordneten Rückzugs ins Private schon wieder bereit für die echte Konfrontation, den unmittelbaren Streit, die ungefilterten Gefühle?
Was ist mit den Rechtsextremen?
Nach »La Fracture« fühlt man sich in jedem Fall besser dafür gewappnet. Wie ein gesamtgesellschaftlicher Reboot setzt der Film zu dem Zeitpunkt an, als die Debatten noch nicht vollständig ins Netz abgewandert waren, sondern auf der Straße tobten. Die Gelbwesten dominieren zur Jahreswende 2018/19 die Nachrichten nicht nur in Frankreich. Teilweise über eine Viertelmillion Demonstrierende laufen gegen Präsident Macron Sturm, dem sie eine Politik nur für Wohlhabende vorwerfen.
Dass Rechtsextreme mitmarschieren, wird den »gilets jaunes« schnell angelastet, auch Regisseurin Corsini stellt den Vorwurf in den Raum. Auflösen tut sie ihn nicht, das kann ihre Momentaufnahme aus einer Nacht voller Gewalt und Schmerz auch nicht leisten. Wie den Krankenschwestern und Ärztinnen und Ärzten auf ihrer Notaufnahme geht es Corsini, mit 65 Jahren zum ersten Mal in den Wettbewerb eingeladen, um die Erfassung der dringendsten Verletzungen und ihrer vorläufigen Behandlung.

Schwester Kim (Aïssatou Diallo Sagna, Mitte) im Dauereinsatz in »La Fracture«
Foto: Cannes Film FestivalZu diesen Verletzungen gehört der Pflegenotstand, der in Frankreich so akut zu sein scheint wie in Deutschland: Drei Nachtschichten in der Woche darf Schwester Kim (Aïssatou Diallo Sagna) offiziell arbeiten, doch diese ist ihre sechste in Folge. Gern würden Kim und ihre Kolleg:innen auch demonstrieren, doch wer soll sich sonst um die Kranken kümmern? Ein Aufnäher auf dem Kittel »Im Streik« muss reichen. Dann geht es auch schon los mit einer Zwölf-Stunden-Schicht. An deren Anfang treffen die ersten Verwundeten von der Demo ein, bei der die Polizei mit Schlagstöcken und Gummigeschossen vorgeht. Am Ende dringt das Tränengas der vorgerückten Polizei sogar in den Wartesaal der Notaufnahme.
Stromstoß bleibt Stromstoß
Hochdruckkino, wie es Corsini mit »La fracture« gelingt, hat in Frankreich eine kleine Tradition. Mathieu Kassovitz hat es mit »Der Hass« in den Neunzigern geprägt, zuletzt haben es Stéphane Brizé mit »Streik« und Ladj Ly mit »Die Wütenden« fortgeführt. Leider scheint von der Energie, die diese Filme ausströmen, nichts bei deutschen Filmschaffenden angekommen zu sein.
Nach »La fracture« fragt man sich nämlich, warum es solche Filme nicht längst über die Ausschreitungen und die Polizeigewalt während G20 in Hamburg gibt. Warum traut sich das deutsche Kino diese Dringlichkeit nicht zu? Warum nimmt es die Herausforderung nicht an, vorläufig und distanzlos zu sein? Will es womöglich gar nicht, dass man über seine Filme streiten kann?
Cannes liefert in diesem Jahr gute Argumente, mehr von dieser Art des Kinos zu wagen, denn zu den weiteren Höhepunkten des bisherigen Wettbewerbs gehört ein anderer, ähnlich wutgetriebener Film: »Ahned's Knee« von Nadav Lapid. Der Israeli gewann 2019 mit »Synonymes« die Berlinale, keine 18 Monate später war der nächste Film fertig.
Er arbeitet Lapids Erlebnisse mit den israelischen Kulturbehörden auf, die ihm vor einem Screening eines seiner Filme eine Liste mit Themen schicken, über die er offiziell reden darf. Natürlich nicht dabei: Die Besatzung der Palästinensergebiete. An Lapids Stelle dreht nun Avshalom Pollak als Filmemacher Y aufgrund solcher absurden Auflagen frei und bringt sich und seine Gastgeberin am Rande eines Screenings in der Wüste von Arava beinahe um den Verstand.

Avshalom Pollak als Filmemacher Y und Nur Fibak als Gastgeberin Yahalom in »Ahned's Knee«
Foto: Cannes Film FestivalIn nur zwei Wochen geschrieben und in 18 Tagen gedreht, ist »Ahned's Knee« das Gegenteil von den Filmen, die Regisseure an den Gewinn großer Preise normalerweise anschließen: gediegenes Starkino, auf Englisch für ein größtmögliches Publikum. Corona hat einen ebenso zügigen Kinostart zwar verhindert, aber von seiner Intensität hat »Ahned's Knee« trotz Wartezeit nichts eingebüßt. Stromstoß bleibt Stromstoß, egal, wann er einen erwischt. Anfang kommenden Jahres soll der Film auch in Deutschland starten.
https://ift.tt/3AO0NKV
Unterhaltung
Bagikan Berita Ini
Related Posts :
Co-Parenting: So gut klappt es bei Ryan Phillippe und Reese - Promiflash.deRyan Phillippe (47) und Reese Witherspoon (45) haben den Bogen raus! Über acht Jahre waren die beide… Read More...
Jessie Cave: "Harry Potter"-Star zum vierten Mal schwanger - STERN.de… Read More...
Nach Beauty-Behandlung: Danni Büchner postet ihre gespritzte Stirn - VIP.de, Star News „Ich habe es ja gestern gepostet, ich war beim Arzt. Das ist das Ergebnis“, präsentiert Danni Büchn… Read More...
Meghan Markle: Insider: Hollywood lacht über sie! - BUNTE.de… Read More...
Die Pochers ziehen vom Leder: "Wendler wie ein Zuhälter für Laura" - VIP.de, Star News Ende November hatten Wendler und Laura mit einem Video für Aufsehen gesorgt, dass man gegen eine Ab… Read More...
0 Response to "Wutkino bei den Filmfestspielen in Cannes: Eine Nacht voller Gewalt - DER SPIEGEL"
Post a Comment